Pauline war 18, als sie gestorben ist. Letzte Woche. Selbstmord. Nach vierjährigem Leiden. In der psychiatrischen Klinik.
Ich muss zugeben, dass ich kaum noch Kontakt zu ihr hatte, nachdem ich aus der Klinik entlassen wurde. Aber das bedeutet nicht, dass mir ihr Tod nicht nahe geht. Er geht mir sehr nahe.
Dass sie tot ist, habe ich erst gestern erfahren. Seitdem läuft mir alle paar Minuten ein kalter Schauer über den Rücken. Gestern hätte ich am liebsten nach einer Flasche Alkohol gegriffen, hätte ich eine im Haus gehabt.
Paulines Schicksal ist mehr als nur hart. Was mich daran so quält, ist nicht nur der Punkt, dass sie wegen der gleichen Scheiße in die Klapse musste wie ich – nämlich wegen den Eltern –, sondern dass sie das mit Abstand aufrichtigste Mädchen war, das ich je kennengelernt habe.
Pauline war freundlich bis zum geht nicht mehr und hat trotz ihrem harten Schicksals gerne und viel gelacht. Und es tut mir mehr als weh, in Vergangenheit schreiben zu müssen…
Pauline war mit 14 in einer psychiatrischen Klinik für Kinder gekommen. Wegen psychosomatischer Epilepsie. Mit 18 kam sie dann in die Klinik, in der ich auch war. 90% der Zeit war sie auf der Geschlossenen, denn sie musste immer unter Beobachtung stehen. Dass sie nicht mehr so leben wollte, war mehr als verständlich…
Jeden Tag hatte sie mindestens 3 epileptische Anfälle. Und jeder Anfall hielt zwischen 20 Minuten und 3 Stunden an. In dieser Zeit hyperventilierte sie, kippte plötzlich um und lag keuchend auf dem Boden. In dieser Zeit hatte sie Black-Outs, sie konnte sich danach an nichts mehr erinnern.
Wenn sie also jeden Tag alle paar Stunden so einen Anfall hatte, konnte sie selbstverständlich nicht mehr zur Schule gehen. Seit sie 14 war, hatte sie also keine Schule mehr besucht. Keinen Abschluss gemacht. Wäre auch völlig unmöglich gewesen. Welche Zukunftsmöglichkeiten hätte das Mädchen also gehabt?
Ärzte und Pfleger konnten ihr nicht helfen.
Ich erinnere mich noch daran, dass ich einmal auf dem Flur hinter ihr lief, als Pauline begann zu schwanken und plötzlich einfach zur Seite kippte. Ich versuchte noch, sie aufzufangen, schaffte es aber nicht und sie knallte zu Boden. Ich lief zu den Pflegern, vollkommen geschockt und wollte, dass sie ihr helfen, voller Panik, doch sie antworteten nur mit einem gelassenem "Jaja". Fünf Minuten später ging dann doch jemand zu ihr, hob sie hoch und brachte sie in unser Zimmer.
Sie waren's eben schon gewöhnt und konnten sowieso nichts dagegen tun. Wenn die Anfälle psychosomatische Gründe haben, ist das mit den Medikamenten sowieso viel schwieriger. Und es hat scheinbar nichts geholfen.
Also rollte sich Pauline mit einem Helm auf dem Kopf, mehrere Stunden hinweg auf dem Boden herum…
Wer wünscht sich ein solches Leben? Ich kann es ihr nicht verübeln, dass sie nicht so weitermachen wollte. Jeden dritten Tag folgte ein Suizidversuch, der von den Pflegern verhindert wurde. Strengste Maßnamen wurden ergriffen; auf der gesamten Station durfte nicht mal jemand Schnürsenkel an seinen Schuhen haben. Gürtel schon mal gar nicht. Kein Ladekabel. Kein Deo.
Und trotzdem hat sie alle drei Tage irgendetwas gefunden, womit sie sich umbringen könnte. Auf der Geschlossenen. Überlegt mal.
Ihre Arme waren vernarbt und meistens mit Verbänden umwickelt, ihre Hände verbrannt und ebenfalls verbunden. Sie hat sich unheimliche Schmerzen selbst zugefügt.
Ich weiß noch, als Pauline sogar mal weggelaufen war. War sie schon oft, aber an diesem Tag hatte man sie einfach nicht wiedergefunden. Bis ein Krankenwagen kam, der sie von der Straße aufgesammelt hatte. Sie war beim überqueren einer Hauptstraße zusammengebrochen und angefahren worden. Aber hatte überlebt.
Pauline hatte genau das gleiche Schicksal mit ihren Eltern wie ich. Ihre Eltern waren auch der Meinung, dass alles, was sie tut, falsch ist. Dass alles, was sie sagt, gegen sie spricht. Und genau wegen diesen Eltern, ist es überhaupt zu dieser Krankheit gekommen. Und genau wie meine Eltern haben ihre nicht eingesehen, dass sie schuldig sind. Nein, sie nahmen das als Vorwurf und einfach nur als Grund, um sie zu ärgern. Wirklich, grandios…
Vor zwei Wochen haben die Eltern dann beschlossen, gar nichts mehr von Pauline wissen zu wollen. Besucht haben sie sie sowieso nicht. Oder mal angerufen. Aber vor zwei Wochen haben sie sich dazu entschieden, die seltenen Gespräche auch noch zu unterbinden. Und haben damit Paulines Hoffnung, wieder glücklich zu werden, vollkommen zerstört.
Und dann versuchte sie es jeden Tag. Jeden verdammten Tag. Bis es nach einer Woche ihr endlich gelungen war…
Pauline, ich vermisse dich. Auch, wenn wir kaum noch Kontakt hatten, ich denke an dich. Und ich werde dich niemals vergessen. Niemand wird dich jemals vergessen. Denn du warst ein einzigartiger Mensch. Und du bleibst auf ewig in unseren Herzen.<'3